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Brief Friedrich Rückerts, 1826

»Nein, ich hab es mir geschworen, euer Leben fort zu dichten…« – Friedrich Rückerts »Kindertodtenlieder« im Horizont von Literatur, Musik, Philosophie und Medizin.

Tagung zum 50jährigen Jubiläum der Rückert-Gesellschaft e. V. vom 4. bis 6. Oktober 2013 im Museum Otto Schäfer.
Eine Veranstaltung der Rückert-Gesellschaft e.V., des Museums Otto Schäfer und des Kulturamts der Stadt Schweinfurt.

 

Tagung zum 50jährigen Jubiläum der Rückert-Gesellschaft e. V.

Organisation und Leitung: Prof. Dr. Ralf Georg Czapla, Ruprecht-Karls-Universität Heidel­berg, Dr. phil. h. c. Rudolf Kreutner, Rückert-Gesellschaft e.V. und Kulturamt Schweinfurt.

Zu den schmerzlichsten Erfahrungen des Menschen gehört der durch den Tod erzwungene Abschied von seinen Nächsten und Liebsten. Während man beim alten Menschen, zumal wenn sein Sterben von Krankheit und körperlicher Hinfälligkeit begleitet wird, oft von Erlö­sung spricht, empfindet man den Tod eines Kindes, das die Schwelle zum Leben gerade erst überschritten hat, als grausam, ja als zutiefst ungerecht. Anders als in der Antike und den un­ter ihrem Einfluss stehenden Jahrhunderten ist man heute weit davon entfernt, den Tod im Kindesalter als Prädestination durch eine schicksalhafte oder göttliche Macht zu begreifen. Die rigorose Zäsur, die ein solcher Tod setzt, wirft die Hinterbliebenen nicht nur auf ihre ei­gene Endlichkeit zurück, sondern stürzt sie in Trauer, Verzweiflung und Hader angesichts eines Verlusts, der kaum zu bewältigen scheint. Eine besondere Erschwernis kommt noch hinzu: Während ein Greis, der nach einem erfüllten Leben stirbt, eine Vielzahl von Dingen hinterlässt, welche die Erinnerung an ihn lebendig halten, weil sie in besonderer Weise mit ihm verbunden waren, verliert sich das kurze Leben eines Klein- oder Kleinstkindes oftmals ins Spurenlose.

Im Dezember 1833 erkrankten alle sechs Kinder des Dichters und Orientalisten Friedrich Rückert (1788-1866) an Scharlach. Während sich vier von ihnen wieder erholten, erlagen die „beiden liebsten und schönsten“ der seinerzeit nicht therapierbaren Infektionskrankheit: Rückerts jüngstes Kind und einzige Tochter Luise (* 25. Juni 1830) am 31. Dezember 1833, sein Sohn Ernst (* 4. Januar 1829) nur wenige Wochen später am 16. Januar 1834. In mehr als 400 Gedichten suchte Rückert den Tod der beiden Kinder zu bewältigen, Gedichten, die er nicht zur Veröffentlichung bestimmte, sondern nach ihrer Fertigstellung in der Schublade seines Schreibtisches verschwinden ließ, ehe sein Sohn Heinrich sie 1872 anonym aus dem Nachlass herausgab. Variabel in ihrer formalen und inhaltlichen Gestalt formieren sie sich zur „größten Totenklage der Weltliteratur“ (Hans Wollschläger), die sich vielfach als gebethafte Zwiesprache mit den Verstorbenen zu erkennen gibt und den Verlust in der Poesie performativ zu überwinden sucht. Rückerts Kindertodtenlieder bilden den ersten thematisch geschlossenen Zyklus innerhalb eines literarischen Genres, das bis dahin zumeist nur in einzelnen Kasualgedichten in Erscheinung getreten war. Gustav Mahlers Vertonung von fünf Gedichten machte sie einem breiteren Publikum zugänglich und markierte zugleich einen Höhepunkt in der Geschichte des deutschen Kunstlieds.

Die Literaturwissenschaft hat Rückerts Gedichten wie überhaupt dem literarischen Genre der Kindertotendichtung als solchem bislang nur sporadisch Aufmerksamkeit geschenkt und dementsprechend nur kurze Interpretationen zu einzelnen Gedichten hervorgebracht. Mono­graphien und Sammelbände fehlen, obwohl sich vor allem für das 16./17. und das 19. Jahr­hundert eine nur noch exemplarisch fassbare Quantität von Kindertotengedichten verzeichnen lässt. Die Tagung der Rückert-Gesellschaft gilt daher einem Forschungsdesiderat. Wird auf li­te­rarhistorischer Ebene erstmals der Versuch unternommen, Rückerts Kindertodtenlieder in einer Tradition zu verorten, die von Martin Luther (1483-1546) über Paul Gerhardt (1607-1676), Andreas Gryphius (1616-1664), Joseph von Eichendorff (1788-1857), Ludwig Uhland (1787-1862), Conrad Ferdinand Meyer (1825-1898) und Wilhelm Raabe (1831-1910) bis hin zu Stefan George (1868-1933), Else Lasker-Schüler (1869-1945), Hugo von Hofmannsthal (1874-1929), Nelly Sachs (1891-1970), Marie Luise Kaschnitz (1901-1974) und Peter Huchel (1903-1981) führt, so wird diese philologi­sche Perspektive ergänzt durch die kulturgeschichtliche, die philosophische, die theologische, die musikwissenschaftliche und nicht zuletzt die medizinische. Der Dialog der verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen soll zu einem vertieften Verständnis des Phänomens der Kinderto­tendichtung führen.