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Brief Friedrich Rückerts, 1826

»Das Völkereintrachtshaus« – Friedrich Rückert und der literarische Europadiskurs im 19. Jahrhundert.

Tagung der Rückert-Gesellschaft vom 8. bis 9. Oktober 2010 im Museum Otto Schäfer.
Eine Veranstaltung der Rückert-Gesellschaft e.V., des Museums Otto Schäfer und des Kulturamts der Stadt Schweinfurt.

 

Tagung der Rückert-Gesellschaft vom 8.–9. Oktober 2010

Konzept: York-Gothart Mix ( Marburg)

Im kulturellen Gedächtnis wird Friedrich Rückerts literarischer Ruhm vor al­lem mit den 1814 unter dem Pseudonym Frei­mund Rei­mar publizierten antinapoleonischen Deutschen Ge­dichten assoziiert, in denen, ganz den Zeichen der Zeit folgend, enragiert zum Kampf gegen die französische Fremd­herrschaft aufgerufen wird. Ähnlich wie in Theodor Körners patriotischer Sammlung Lei­er und Schwert oder Heinrich von Kleists Katechismus der Deutschen dominiert bei Rückert die Trauer über das Ende des Alten Reiches, die Politik der Rheinbundstaaten und die Empörung über den Korsen­kaiser. Auch in den zu Lebzeiten 1815 und 1818 erschienenen Bänden Napoleon und der Dra­che und Napoleon und seine Fortuna, einer ursprünglich als Trilogie angelegten dichterischen Zeit­diagnose Rückerts, scheint der antifranzösische Tenor bestimmend. Bei genauerer Lektüre zeigt sich jedoch, dass das, was eindeutig zu sein scheint, keineswegs so eindeutig ist, sondern eher eine un­reflektierte Fortschreibung einer stereotypen Rezeption: Rückert geht es keineswegs um eine Tra­dierung anti­französischer Reflexe; vielmehr ist das Scheitern der Französischen Revolution und ihrer Freiheits­ideale sein zentrales Thema.

Wie wenig sich Rückert als Kronzeuge eines hurrapatriotischen Militarismus eignet, belegen seine Jahrzehnte später zu Papier gebrachten Zeitgedichte. In den Texten Deutschlands Anerkennung und Das Völkereintrachtshaus wird die Vision eines föderativen europäischen Bundes beschworen, der seine Konflikte ohne kriegerische Gewalt im friedlichen Miteinander regelt. In Rückerts Poem Deutschlands Anerkennung heißt es:

Europas Völker werden wie vor Zeiten
Nicht mehr mit Waffen streiten,
Von Leidenschaften blind
Wetteifern werden sie mit edlerm Eifer,
Der Völker welches reifer
An Geist sei Gottes Kind.

Schon der Titel des programmatischen, 1833 geschriebenen Gedichts Das Völkerein­trachts­haus signalisiert ähnliche Intentionen und verdeutlicht, dass Rückert mit der Metapher vom europä­ischen Haus gezielt an eine Tradition anknüpft, die mit den Namen Jean-Jacques Rousseau, Imma­nuel Kant, Friedrich von Hardenberg oder Johann Gottlieb Fichte verbunden ist. Im Rekurs auf Rous­seau   imaginiert Rückert einen abgrenzbaren, einheitlichen, historisch gewachsenen und eng ver­flochtenen europäischen Kulturraum, dessen Basis die christliche Ethik und das römische Recht bil­den. So wie Kant in seinem wegweisenden Entwurf Zum ewigen Frieden (1795) beschwört er eine zukunftswei­sende, auf Interessenausgleich und Gleichberechtigung basierende Staatenunion.

Geht man mit Christoph Hein davon aus, dass die Wirkungen von Literatur tatsächlich oft „nur be­dingt auf das Buch“, aber „unbedingt auf den Leser schließen“ lassen, so scheint eine kritische Aus­einandersetzung mit den Stereotypen der Rückert-Rezeption überfällig. Die Tagung soll die Verbin­dungen zwischen der Konstruktion von Nationenbegriffen und dem literarischen Europadiskurs im 19. Jahrhundert präzisieren und ausgehend vom Werk Rückerts sowie anderer relevanter Autoren auf Entwicklungen verweisen, die ungeachtet ihrer Komplexität und Widersprüchlichkeit auf die Gegenwart deuten. Dazu zählen neben ideen- und literaturgeschichtlichen Fragestellungen die Emer­genz variabler Stereotype, Klischees und Vorurteile sowie das Problem einer spezifischen euro­pä­ischen Tradition und Kultur.