Tagung der Rückert-Gesellschaft vom 8. bis 9. Oktober 2010 im Museum Otto Schäfer.
Eine Veranstaltung der Rückert-Gesellschaft e.V., des Museums Otto Schäfer und des Kulturamts der Stadt Schweinfurt.
Tagung der Rückert-Gesellschaft vom 8.–9. Oktober 2010
Konzept: York-Gothart Mix ( Marburg)
Im kulturellen Gedächtnis wird Friedrich Rückerts literarischer Ruhm vor allem mit den 1814 unter dem Pseudonym Freimund Reimar publizierten antinapoleonischen Deutschen Gedichten assoziiert, in denen, ganz den Zeichen der Zeit folgend, enragiert zum Kampf gegen die französische Fremdherrschaft aufgerufen wird. Ähnlich wie in Theodor Körners patriotischer Sammlung Leier und Schwert oder Heinrich von Kleists Katechismus der Deutschen dominiert bei Rückert die Trauer über das Ende des Alten Reiches, die Politik der Rheinbundstaaten und die Empörung über den Korsenkaiser. Auch in den zu Lebzeiten 1815 und 1818 erschienenen Bänden Napoleon und der Drache und Napoleon und seine Fortuna, einer ursprünglich als Trilogie angelegten dichterischen Zeitdiagnose Rückerts, scheint der antifranzösische Tenor bestimmend. Bei genauerer Lektüre zeigt sich jedoch, dass das, was eindeutig zu sein scheint, keineswegs so eindeutig ist, sondern eher eine unreflektierte Fortschreibung einer stereotypen Rezeption: Rückert geht es keineswegs um eine Tradierung antifranzösischer Reflexe; vielmehr ist das Scheitern der Französischen Revolution und ihrer Freiheitsideale sein zentrales Thema.
Wie wenig sich Rückert als Kronzeuge eines hurrapatriotischen Militarismus eignet, belegen seine Jahrzehnte später zu Papier gebrachten Zeitgedichte. In den Texten Deutschlands Anerkennung und Das Völkereintrachtshaus wird die Vision eines föderativen europäischen Bundes beschworen, der seine Konflikte ohne kriegerische Gewalt im friedlichen Miteinander regelt. In Rückerts Poem Deutschlands Anerkennung heißt es:
Europas Völker werden wie vor Zeiten
Nicht mehr mit Waffen streiten,
Von Leidenschaften blind
Wetteifern werden sie mit edlerm Eifer,
Der Völker welches reifer
An Geist sei Gottes Kind.
Schon der Titel des programmatischen, 1833 geschriebenen Gedichts Das Völkereintrachtshaus signalisiert ähnliche Intentionen und verdeutlicht, dass Rückert mit der Metapher vom europäischen Haus gezielt an eine Tradition anknüpft, die mit den Namen Jean-Jacques Rousseau, Immanuel Kant, Friedrich von Hardenberg oder Johann Gottlieb Fichte verbunden ist. Im Rekurs auf Rousseau imaginiert Rückert einen abgrenzbaren, einheitlichen, historisch gewachsenen und eng verflochtenen europäischen Kulturraum, dessen Basis die christliche Ethik und das römische Recht bilden. So wie Kant in seinem wegweisenden Entwurf Zum ewigen Frieden (1795) beschwört er eine zukunftsweisende, auf Interessenausgleich und Gleichberechtigung basierende Staatenunion.
Geht man mit Christoph Hein davon aus, dass die Wirkungen von Literatur tatsächlich oft „nur bedingt auf das Buch“, aber „unbedingt auf den Leser schließen“ lassen, so scheint eine kritische Auseinandersetzung mit den Stereotypen der Rückert-Rezeption überfällig. Die Tagung soll die Verbindungen zwischen der Konstruktion von Nationenbegriffen und dem literarischen Europadiskurs im 19. Jahrhundert präzisieren und ausgehend vom Werk Rückerts sowie anderer relevanter Autoren auf Entwicklungen verweisen, die ungeachtet ihrer Komplexität und Widersprüchlichkeit auf die Gegenwart deuten. Dazu zählen neben ideen- und literaturgeschichtlichen Fragestellungen die Emergenz variabler Stereotype, Klischees und Vorurteile sowie das Problem einer spezifischen europäischen Tradition und Kultur.