Brief an Lorenz Sixt von 1805
Dichter, Philologe und Zentralgestalt der akademischen Orientforschung in Deutschland: Für die zahlreichen Verdienste Friedrich Rückerts sind seine ungewöhnliche Sprachbeherrschung wie auch die besondere Konstellation historischer Umstände gleichermaßen entscheidend. Erfahren Sie im Folgenden mehr darüber, was Friedrich Rückert als Schriftsteller und Sprachwissenschaftler des 19. Jahrhunderts auszeichnet – und warum er bis heute nichts an Aktualität eingebüßt hat.
Um innerhalb der Chronologie zu navigieren, bitte den Schieberegler nach rechts bewegen.
Friedrich Rückert wurde am 16. Mai 1788 in Schweinfurt geboren. Nach der Versetzung seines im Verwaltungsdienst beamteten Vaters verlebte Rückert in den Jahren 1792 bis 1802 eine unbeschwerte Kindheit im unterfränkischen Oberlauringen. In seine ersten Prägungen durch diverse Ortsgeistliche hinsichtlich Naturerlebnis, Dichtung und Fremdsprachen geben die späteren Gedichte der Sammlung ‚Kinderjahre eines Dorfamtmannsohns‘ (1829; Druck 1837) Einblick.
1805 studierte Rückert auf Wunsch des Vaters in Würzburg zunächst Rechtswissenschaften, wechselte aber bereits im darauffolgenden Semester zur Philologie und Philosophie. Lehrer wie Johann Jakob Wagner (1775–1841) und Heinrich Voss d. J. (1779–1822), bei dem er 1808 in Heidelberg Metrik hörte, gaben Rückert entscheidende Anregungen für seine Sprachstudien, die in der 1811 in Jena eingereichten Dissertation ‚De idea philologiae‘ programmatisch ausgearbeitet werden: Der Philologe wird hier in den Rang eines Philosophen erhoben. Er soll mit den Mitteln der Sprachwissenschaft und Poesie eine realweltliche Sprache, vorzugsweise die deutsche, durch die Vereinigung aller Vorzüge der bekannten Weltsprachen der idealen Form von Sprache überhaupt angleichen. Diese Konzeption bildet Rückerts weiteres ‚Lebensprogramm‘ (Claudia Wiener).
Einem kurzen Gastspiel als Dozent in Jena folgten für Rückert mehrere Jahre der Selbstfindung, in denen der Fouqué-Freund Christian Truchseß von Wetzhausen (1755–1826) eine kaum zu überschätzende Rolle spielte: Letztlich waren es dessen literarische Interessen und Kontakte, die Rückert den Durchbruch im Literaturbetrieb ermöglichen würden. Im konkreten Fall der die Freiheitskriege besingenden ‚Deutschen Gedichte‘ (Druck 1814) etwa betätigte sich der Truchseß nicht nur als Mäzen, sondern nahm sich auch gezielt der Rezeption des Erstlingswerks an, indem er persönlich für Rezensionen in den namhaften Blättern der Zeit sorgte. Dem Truchseß mit seiner ‚Bettenburger Tafelrunde‘ waren letztlich auch die Beziehungen zum Verleger Johann Friedrich von Cotta (1764–1832) zu verdanken. Dieser betraute Rückert 1816/17 – gemeinsam mit Friedrich Haug (1761–1829) – mit der Redaktion des berühmten ‚Morgenblattes‘ in Stuttgart. Cotta ermöglichte Rückert auch seine Italienreise 1817/18. Auf dem Rückweg suchte Rückert zum Jahreswechsel 1818/19 den Wiener Orientalisten Joseph von Hammer-Purgstall (1774–1856) auf, um mit dessen Hilfe seine bereits autodidaktisch erworbenen Kenntnisse der Orientalischen Sprachen zu vertiefen und zu erweitern.
Bei seinen Sprachstudien 1820 in Coburg lernte Rückert das Archivarsmündel Luise Wiethaus-Fischer (1797–1857) kennen. 1821 heirateten beide. Luise inspirierte Rückert zur Gedichtsammlung ‚Liebesfrühling‘ (1821; Druck 1834, Separatausg. 1844). Von Eltern wie Schwiegereltern vielfältig unterstützt, bestritt Rückert den Lebensunterhalt der schnell wachsenden Familie zunächst durch die Publikation seines ersten im orientalischen Geist verfassten Werkes, der ‚Oestlichen Rosen‘ (1819–1821; Druck 1822). Hinzu kamen später Einkünfte aus Redaktionstätigkeiten und der Mitarbeit an Almanachen und Taschenbüchern (z. B. ‚Frauentaschenbuch‘ 1822–1825). Mit der kongenialen Übertragung des arabischen Klassikers ‚Die Verwandlungen des Ebu Seid von Serúg oder die Makámen des Haríri in freier Nachbildung‘ (1823–1825; Druck 1826, 18787, Neue Ausg. 1989) gelang es ihm 1826, in Erlangen auf den Lehrstuhl für Orientalischen Sprachen berufen zu werden. Die nun reichlich vorhandene Gelegenheit, Sprachwissenschaft und Dichtung schöpferisch zu verbinden, führte zu einem regelrechten Produktivitätsschub. In rascher Abfolge entstanden Übertragungen und Übersetzungen von Werken aus diversen Sprach- und Kulturkreisen: 1826 ‚Nal und Damajanti‘ aus dem altindischen Heldenepos ‚Mahābhārata‘ (Druck 1828, 18896, neue Ausg. 1926), zwischen 1827 und 1829 die ‚Hebräischen Propheten‘ (Druck 1831), 1828 Firdawsi’s ‚Rostem und Suhrab‘ (Druck 1838, 18463), 1829 das altindische ‚Amaru-Satakam‘ (Druck 1831, Neue Ausg. 1925), 1831 die chinesische Anthologie ‚Schi-King‘ (Druck 1833), 1837 Jayadevas ‚Gitagovinda‘ (Druck 1837, Neue Ausg. 1920); gegen Ende der 30er Jahre schließt er auch eine Auswahlübersetzung des Koran ab (Druck 1888; Neue Ausg. 1995, 20185). Gleichzeitig stellte er seine ‚Gesammelten Gedichte‘ (Druck 1834ff.) zusammen, die bis 1838 auf insgesamt sechs Bände anwachsen sollten. Ebenfalls in die Erlanger Zeit fallen u. a. die sechsbändige Ausgabe der ‚Weisheit des Brahmanen‘ (1835/36, Druck 1836–1839; Neue Ausg. 1998) und der durch Gustav Mahlers Vertonungen (1860–1911) auch heute noch breiter bekannte Zyklus ‚Kindertodtenlieder‘ (1834; Druck 1872; Neue Ausg. 1988).
Auf dem Gipfel seiner Produktivität erhielt Rückert 1841 den ehrenvollen Ruf Friedrich Wilhelms IV. (1795–1861) an die Berliner Universität. Vielleicht um den vermeintlichen Erwartungen des neuen Musenhofs zu entsprechen, sicherlich aber auch, um seinen eigenen Ansprüchen als Dichter zu genügen, versuchte er sich nun an historischen Dramen – allerdings weitgehend erfolglos. Die Ablehnung der von ihm wohl als Vollendung seiner dichterischen Laufbahn konzipierten Dramen erlebte Rückert als existenzielle Enttäuschung. Das führte, gemeinsam mit einer allgemeinen resignativen Grundstimmung seit Mitte der 30er Jahre, zu Rückerts Rückzug auf sein Landgut in Neuses bei Coburg. Nur einen Tag vor Ausbruch der Revolution von 1848 reiste er aus Berlin ab.
Neben seinen Sprachstudien, denen er bis ins hohe Alter treu bleiben sollte, schrieb Rückert in Neuses in nahezu völliger Abgeschiedenheit bis wenige Tage vor seinem Tode im Januar 1866 das von ihm selbst so bezeichnete ‚Liedertagebuch‘. Die etwa 10.000 und bis heute noch großenteils unveröffentlichten Gedichte kommentieren – teils resigniert, teils sarkastisch, aber durchgängig klarsichtig – den Untergang seiner Epoche.
Trotz Umfang und Vielfalt von Rückerts Dichtungen sticht ein Wesenszug ins Auge: der starke Niederschlag historischer Ereignisse. Rückerts Werk beschränkt sich allerdings nicht auf die bloße poetische Widerspiegelung seiner Lebenswelt. Vielmehr manifestieren sich hier literarische Gegenwelten: Dem Untergang des Alten Reiches als Folge der Napoleonischen Kriege steht z. B. mit den ‚Deutschen Gedichten‘ – oder exemplarisch im ‚Barbarossa‘ – die Vision von der Wiedererstehung des einigen Deutschland entgegen. Der Enge der Restaurationsepoche seit 1815 wird das Konzept der ‚Weltpoesie‘ entgegengesetzt.
Rückerts Sprachgenie und die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit über 40 zumeist orientalischen Idiomen führen zu einer in der deutschen Literaturgeschichte beispiellosen philologischen Gesamtleistung. Dabei gelingt es Rückert in einmaliger Weise, in seinen Übersetzungen bzw. Übertragungen die Authentizität der fremdsprachlichen Vorlage durchscheinen zu lassen. Auch deswegen kommt ihm schon zu Lebzeiten eine Vorreiterrolle bei der Vermittlung der verschiedensten Kultur-Welten zu.
Das reformunfähige Gemeinwesen des deutschen Partikularismus konterkarieren Rückerts ‚Haus- und Jahrlieder‘ (1832–1838) mit der bürgerlichen Lebenswelt als einziger denkbarer Alternative. Darüber hinaus formulieren auch fast alle im Vormärz erscheinenden Lyrikbände handfeste Gesellschafts- und Herrschaftskritik (z. B. in der ‚Weisheit des Brahmanen‘). Nach den zerstobenen Hoffnungen auf das Paulskirchen-Parlament von 1848/49 bleibt Rückert dann nur noch der Rückzug in die letzte seiner Gegenwelten, in die Emigration äußerster Privatheit auf seinem abgelegenen Gut in Neuses. Die unzähligen dort entstehenden zeitkritischen Gedichte zielen gleichermaßen radikal auf die Antagonisten Adelsgesellschaft und Industrialisierung. Während der Adel hier in jeder Hinsicht als obsolet dasteht, wird die Industrialisierung hellsichtig im Kontext der Gefahr ihrer Entwicklung zur Massengesellschaft thematisiert. Letztlich ist es diese durchgängig ebenso kreative wie authentische Verknüpfung von Lebensepoche und Werk, gepaart mit der Rückert eigenen Sprachgewalt, die seine bleibende geistesgeschichtliche Relevanz ausmacht.
Friedrich Rückert gehört zu den meistvertonten Dichtern deutscher Sprache. Die volle ihm gebührende Anerkennung seitens der Literaturwissenschaft steht dagegen noch aus: Zum einen dürfte allein der immense Umfang des Werkes eine intensive Auseinandersetzung erschweren, zum anderen erfordert seine enorme Vielfalt unbedingt einen interdisziplinären Forschungsansatz. Seit 1998 mit der Edition des immer noch in weiten Teilen unveröffentlichten Gesamtwerks begonnen wurde, entsteht eigentlich erst die Grundlage für eine angemessene Würdigung Friedrich Rückerts. An ihrem Abschluss wird die historisch-kritische Ausgabe eines Werkes stehen, das nicht weniger leistet, als eine Epoche in ihrer Totalität zu beschreiben – und in seinem kulturvermittelnden Ansatz weit über die eigene Zeit hinausreicht.
Friedrich Rückert wurde am 16. Mai 1788 in Schweinfurt geboren. Nach der Versetzung seines im Verwaltungsdienst beamteten Vaters verlebte Rückert in den Jahren 1792 bis 1802 eine unbeschwerte Kindheit im unterfränkischen Oberlauringen. In seine ersten Prägungen durch diverse Ortsgeistliche hinsichtlich Naturerlebnis, Dichtung und Fremdsprachen geben die späteren Gedichte der Sammlung ‚Kinderjahre eines Dorfamtmannsohns‘ (1829; Druck 1837) Einblick.
1805 studierte Rückert auf Wunsch des Vaters in Würzburg zunächst Rechtswissenschaften, wechselte aber bereits im darauffolgenden Semester zur Philologie und Philosophie. Lehrer wie Johann Jakob Wagner (1775–1841) und Heinrich Voss d. J. (1779–1822), bei dem er 1808 in Heidelberg Metrik hörte, gaben Rückert entscheidende Anregungen für seine Sprachstudien, die in der 1811 in Jena eingereichten Dissertation ‚De idea philologiae‘ programmatisch ausgearbeitet werden: Der Philologe wird hier in den Rang eines Philosophen erhoben. Er soll mit den Mitteln der Sprachwissenschaft und Poesie eine realweltliche Sprache, vorzugsweise die deutsche, durch die Vereinigung aller Vorzüge der bekannten Weltsprachen der idealen Form von Sprache überhaupt angleichen. Diese Konzeption bildet Rückerts weiteres ‚Lebensprogramm‘ (Claudia Wiener).
Einem kurzen Gastspiel als Dozent in Jena folgten für Rückert mehrere Jahre der Selbstfindung, in denen der Fouqué-Freund Christian Truchseß von Wetzhausen (1755–1826) eine kaum zu überschätzende Rolle spielte: Letztlich waren es dessen literarische Interessen und Kontakte, die Rückert den Durchbruch im Literaturbetrieb ermöglichen würden. Im konkreten Fall der die Freiheitskriege besingenden ‚Deutschen Gedichte‘ (Druck 1814) etwa betätigte sich der Truchseß nicht nur als Mäzen, sondern nahm sich auch gezielt der Rezeption des Erstlingswerks an, indem er persönlich für Rezensionen in den namhaften Blättern der Zeit sorgte. Dem Truchseß mit seiner ‚Bettenburger Tafelrunde‘ waren letztlich auch die Beziehungen zum Verleger Johann Friedrich von Cotta (1764–1832) zu verdanken. Dieser betraute Rückert 1816/17 – gemeinsam mit Friedrich Haug (1761–1829) – mit der Redaktion des berühmten ‚Morgenblattes‘ in Stuttgart. Cotta ermöglichte Rückert auch seine Italienreise 1817/18. Auf dem Rückweg suchte Rückert zum Jahreswechsel 1818/19 den Wiener Orientalisten Joseph von Hammer-Purgstall (1774–1856) auf, um mit dessen Hilfe seine bereits autodidaktisch erworbenen Kenntnisse der Orientalischen Sprachen zu vertiefen und zu erweitern.
Bei seinen Sprachstudien 1820 in Coburg lernte Rückert das Archivarsmündel Luise Wiethaus-Fischer (1797–1857) kennen. 1821 heirateten beide. Luise inspirierte Rückert zur Gedichtsammlung ‚Liebesfrühling‘ (1821; Druck 1834, Separatausg. 1844). Von Eltern wie Schwiegereltern vielfältig unterstützt, bestritt Rückert den Lebensunterhalt der schnell wachsenden Familie zunächst durch die Publikation seines ersten im orientalischen Geist verfassten Werkes, der ‚Oestlichen Rosen‘ (1819–1821; Druck 1822). Hinzu kamen später Einkünfte aus Redaktionstätigkeiten und der Mitarbeit an Almanachen und Taschenbüchern (z. B. ‚Frauentaschenbuch‘ 1822–1825). Mit der kongenialen Übertragung des arabischen Klassikers ‚Die Verwandlungen des Ebu Seid von Serúg oder die Makámen des Haríri in freier Nachbildung‘ (1823–1825; Druck 1826, 18787, Neue Ausg. 1989) gelang es ihm 1826, in Erlangen auf den Lehrstuhl für Orientalischen Sprachen berufen zu werden. Die nun reichlich vorhandene Gelegenheit, Sprachwissenschaft und Dichtung schöpferisch zu verbinden, führte zu einem regelrechten Produktivitätsschub. In rascher Abfolge entstanden Übertragungen und Übersetzungen von Werken aus diversen Sprach- und Kulturkreisen: 1826 ‚Nal und Damajanti‘ aus dem altindischen Heldenepos ‚Mahābhārata‘ (Druck 1828, 18896, neue Ausg. 1926), zwischen 1827 und 1829 die ‚Hebräischen Propheten‘ (Druck 1831), 1828 Firdawsi’s ‚Rostem und Suhrab‘ (Druck 1838, 18463), 1829 das altindische ‚Amaru-Satakam‘ (Druck 1831, Neue Ausg. 1925), 1831 die chinesische Anthologie ‚Schi-King‘ (Druck 1833), 1837 Jayadevas ‚Gitagovinda‘ (Druck 1837, Neue Ausg. 1920); gegen Ende der 30er Jahre schließt er auch eine Auswahlübersetzung des Koran ab (Druck 1888; Neue Ausg. 1995, 20185). Gleichzeitig stellte er seine ‚Gesammelten Gedichte‘ (Druck 1834ff.) zusammen, die bis 1838 auf insgesamt sechs Bände anwachsen sollten. Ebenfalls in die Erlanger Zeit fallen u. a. die sechsbändige Ausgabe der ‚Weisheit des Brahmanen‘ (1835/36, Druck 1836–1839; Neue Ausg. 1998) und der durch Gustav Mahlers Vertonungen (1860–1911) auch heute noch breiter bekannte Zyklus ‚Kindertodtenlieder‘ (1834; Druck 1872; Neue Ausg. 1988).
Auf dem Gipfel seiner Produktivität erhielt Rückert 1841 den ehrenvollen Ruf Friedrich Wilhelms IV. (1795–1861) an die Berliner Universität. Vielleicht um den vermeintlichen Erwartungen des neuen Musenhofs zu entsprechen, sicherlich aber auch, um seinen eigenen Ansprüchen als Dichter zu genügen, versuchte er sich nun an historischen Dramen – allerdings weitgehend erfolglos. Die Ablehnung der von ihm wohl als Vollendung seiner dichterischen Laufbahn konzipierten Dramen erlebte Rückert als existenzielle Enttäuschung. Das führte, gemeinsam mit einer allgemeinen resignativen Grundstimmung seit Mitte der 30er Jahre, zu Rückerts Rückzug auf sein Landgut in Neuses bei Coburg. Nur einen Tag vor Ausbruch der Revolution von 1848 reiste er aus Berlin ab.
Neben seinen Sprachstudien, denen er bis ins hohe Alter treu bleiben sollte, schrieb Rückert in Neuses in nahezu völliger Abgeschiedenheit bis wenige Tage vor seinem Tode im Januar 1866 das von ihm selbst so bezeichnete ‚Liedertagebuch‘. Die etwa 10.000 und bis heute noch großenteils unveröffentlichten Gedichte kommentieren – teils resigniert, teils sarkastisch, aber durchgängig klarsichtig – den Untergang seiner Epoche.
Trotz Umfang und Vielfalt von Rückerts Dichtungen sticht ein Wesenszug ins Auge: der starke Niederschlag historischer Ereignisse. Rückerts Werk beschränkt sich allerdings nicht auf die bloße poetische Widerspiegelung seiner Lebenswelt. Vielmehr manifestieren sich hier literarische Gegenwelten: Dem Untergang des Alten Reiches als Folge der Napoleonischen Kriege steht z. B. mit den ‚Deutschen Gedichten‘ – oder exemplarisch im ‚Barbarossa‘ – die Vision von der Wiedererstehung des einigen Deutschland entgegen. Der Enge der Restaurationsepoche seit 1815 wird das Konzept der ‚Weltpoesie‘ entgegengesetzt.
Rückerts Sprachgenie und die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit über 40 zumeist orientalischen Idiomen führen zu einer in der deutschen Literaturgeschichte beispiellosen philologischen Gesamtleistung. Dabei gelingt es Rückert in einmaliger Weise, in seinen Übersetzungen bzw. Übertragungen die Authentizität der fremdsprachlichen Vorlage durchscheinen zu lassen. Auch deswegen kommt ihm schon zu Lebzeiten eine Vorreiterrolle bei der Vermittlung der verschiedensten Kultur-Welten zu.
Das reformunfähige Gemeinwesen des deutschen Partikularismus konterkarieren Rückerts ‚Haus- und Jahrlieder‘ (1832–1838) mit der bürgerlichen Lebenswelt als einziger denkbarer Alternative. Darüber hinaus formulieren auch fast alle im Vormärz erscheinenden Lyrikbände handfeste Gesellschafts- und Herrschaftskritik (z. B. in der ‚Weisheit des Brahmanen‘). Nach den zerstobenen Hoffnungen auf das Paulskirchen-Parlament von 1848/49 bleibt Rückert dann nur noch der Rückzug in die letzte seiner Gegenwelten, in die Emigration äußerster Privatheit auf seinem abgelegenen Gut in Neuses. Die unzähligen dort entstehenden zeitkritischen Gedichte zielen gleichermaßen radikal auf die Antagonisten Adelsgesellschaft und Industrialisierung. Während der Adel hier in jeder Hinsicht als obsolet dasteht, wird die Industrialisierung hellsichtig im Kontext der Gefahr ihrer Entwicklung zur Massengesellschaft thematisiert. Letztlich ist es diese durchgängig ebenso kreative wie authentische Verknüpfung von Lebensepoche und Werk, gepaart mit der Rückert eigenen Sprachgewalt, die seine bleibende geistesgeschichtliche Relevanz ausmacht.
Friedrich Rückert gehört zu den meistvertonten Dichtern deutscher Sprache. Die volle ihm gebührende Anerkennung seitens der Literaturwissenschaft steht dagegen noch aus: Zum einen dürfte allein der immense Umfang des Werkes eine intensive Auseinandersetzung erschweren, zum anderen erfordert seine enorme Vielfalt unbedingt einen interdisziplinären Forschungsansatz. Seit 1998 mit der Edition des immer noch in weiten Teilen unveröffentlichten Gesamtwerks begonnen wurde, entsteht eigentlich erst die Grundlage für eine angemessene Würdigung Friedrich Rückerts. An ihrem Abschluss wird die historisch-kritische Ausgabe eines Werkes stehen, das nicht weniger leistet, als eine Epoche in ihrer Totalität zu beschreiben – und in seinem kulturvermittelnden Ansatz weit über die eigene Zeit hinausreicht.
© 2021 Alle Rechte vorbehalten made with 🤍 by netfellows